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Aalkönig-Krönungsfest 2008

Der ältere Herr ließ sich lange Bedenkzeit, ehe er dem Aalkönigkomitee endlich zusagte, sich der Nominierung zum sechsten Honnefer Aalkönig zu stellen. Hans-Dietrich Genscher, inzwischen 85 Jahre alt, aber immer noch Vielflieger, wollte – wie immer in seiner unendlichen politisch/diplomatischen Laufbahn – auf Nummer Sicher gehen. Der alte Fuchs, der als rüstiger Pensionär noch zum Aal mutiert, wollte auf keinen Fall mit den Insignien des Honnefer Aalkönigs unverhofft in einen Club politischer Dissidenten rutschen, von Leuten also, die mit ihrer jeweiligen Partei über Kreuz waren oder es noch sind. Dass alle politische Schwergewichte waren oder noch sind – Wolfgang I, Lothar I, Friedrich I oder Peer I – davon ließ sich der Wunschkandidat von Friedhelm Ost, Helmut Kloss, Heinz Warneke, Michael Holmer Gerdes, Günther Raths, Axel Heim und Klaus Wirtgen nicht beeindrucken. Der Liberale mit dem gelben Pullover hielt sein Motiv bedeckt bis zur Proklamation am Rheinufer im Juni. Seine späte Offenbarung allerdings war Genscher pur: „Ich vertrete das Gelbe vom Ei.“
Fortan wird Honnef regiert von einem der profiliertesten und zugleich geschmeidigsten, einem der erfolgreichsten und zugleich rastlosesten Politiker, den die deutschen Wähler nach dem Krieg in Amt und Würden gewählt haben. Welche Attribute hat sich der Bürger des gegenüber von Honnef gelegenen Wachtberg nicht verdient: dienstältester Außenminister der Welt, Minister Überall, Goldenes Schlitzohr oder „der mit den Ohren“ wie sein sächsischer Landsmann Herbert Wehner den gebürtigen Hallenser mit einem Prädikat für die politische Ewigkeit adelte. Keiner seiner Nachfolger oder Vorgänger legte mehr Flugkilometer zurück. Viele Mitarbeiter, auch Journalisten, die dem Tempo dieses Mannes rund um den Globus mithalten wollten, blieben erschöpft zurück. Auch die drei Kanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl, denen Genscher – zunächst als Innenminister (1969 bis 1974), später als Chef des Auswärtigen Amtes (1974-1992) – diente, konnten gelegentlich nur ahnen, wo der Hausherr von nebenan in der Bonner Adenauerallee gerade wieder seine Fäden knüpfte.
In seine Zeit als Bundesinnenminister fielen das schreckliche Attentat auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Sommerspielen 1972 in München und 1974 der Rücktritt des SPD-Kanzlers und Träger des Friedensnobelpreises Willy Brandt aufgrund der Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume. Das hielt jedoch Brandts Nachfolger Helmut Schmidt nicht davon ab, Genscher 1974 als Außenminister und Vizekanzler seiner sozialliberalen Koalition zu akzeptieren. Noch im selben Jahr wurde er zum FDP-Vorsitzenden gewählt, ein Mandat, das er auch noch ausübte, nachdem er 1982 die „Wende“ von den Sozialdemokarten zur Union vollzogen hatte und anschließend seine Arbeit als Chefdiplomat unter Kanzler Kohl fortsetzte.

In diese Zeit fiel jene Szene, die Hans-Dietrich Genscher für immer einen Platz in den Geschichtsbüchern sichert. Am 30. September 1989 hielten sich in der deutschen Vertretung in Prag rund 4000 DDR-Bürger auf. Sie waren über die trotz Kalten Krieges relativ niedrigen Zäune geklettert. Der Schutz wurde  übrigens vor fünf Jahren unüberwindlich erhöht – eine  „Anti-Terror-Maßnahme“.
 „Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen.....“ rief Genscher den Flüchtlingen zu, dann erstickte deren Jubel die geplante Ansprache. Es blieb wohl der berühmteste Halbsatz, der jemals Geschichte machte und die Szene blieb ihm haften als „die bewegendsten Stunden“ seines Lebens. Mit den außenpolitischen Komponenten (zwei plus vier Verhandlungen) ergänzte Genscher das Vertragswerk der Deutschen Einheit und konnte damit zugleich seine in allen Amtszeiten unter mehreren Kanzlern nie aufgegebenen Bemühungen um eine größere, auch sicherheitspolitische Selbstständigkeit Europas krönen. Er saß Mitte Juli 1990 zusammen mit Michail Gorbatschow und Helmut Kohl um jenen Baumstumpf im Kaukasus, als das letzte große außenpolitische Hindernis für die Deutsche Einheit beseitigt wurde. Nach seinem überraschenden Rücktritt als Minister im Jahre 1992 widmete er sich als Abgeordneter dem inneren Zusammenwachsen Deutschlands.
Vor allem seine Heimatstadt Halle liegt ihm am Herzen. Schon zu DDR-Zeiten war er regelmäßig in die Stadt an der Saale gereist, deren Ehrenbürger er ist. Sein Geburtsort Reideburg/ Saalekreis hatte dem späteren Weltbürger eine unbeschwerte Jugend auf dem Bauernhof beschert, begleitet und behütet von Schäferhund „Dölli“ und einem Braunen im Pferdestall, dem er allabendlich seine Nöte anvertraute, schrieben seine Biografen Werner Filmer und Heribert Schwan. Sie eruierten auch, dass der heutige Fußballfan in Halle nur ein mäßiger Kicker war, vor allem aber so unmusikalisch gewesen sei, dass selbst die Musiklehrerin seiner Mutter Hilde riet, für alle Zeit von musikalischen Betätigungen des Sohnes Abstand zu nehmen. Später in der Oberstufe  nannten ihn die Klassenkameraden „Harry Piel“, nach einem damals populären Film-Draufgänger. Sein Deutschlehrer pflegte ihn begeistert als „geistigen Panzerwagen“ zu loben. Hitlerjunge, Flakhelfer, Kriegsgefangener, später Jurastudium – Hans-Dietrich Genscher zählt heute neben Helmut Schmidt noch zu den letzten Kriegsteilnehmern unter den Politikern, die auch in ihren Parteien noch gehört werden.
Der neue Ruhm des Honnefer Aalkönigs Hans-Dietrich I. wird sich, dessen ist sich das Komitee sicher, wie Donnerhall weit über die Grenzen der schönen Stadt am Rhein verteilen. Er wird – wie seine Vorgänger – seine Hand an einer Säule des „Hall of Fame“ zwischen Avendi und Kurhaussaal als Abdruck verewigen.
Dabei wird er sich fragen lassen, ob ihm die rheinische Ehrerbietung besser gefällt als jenes „Pixelportrait Hans-Dietrich Genscher“ des Salzwedler Künstlers Frank Platte. Der hatte das Portrait aus 25.000 Ein-Euro-Cent-Münzen auf Glas montiert und im Treppenhaus der FDP - Landtagsfraktion in Magdeburg aufgehängt. Die Arbeit ist Teil eines Portrait – Zyklus mit Bildern von Menschen, „die sich im visuellen Bewusstsein der Menschen tief eingeprägt haben“. Allerdings nutzte der Künstler unterschiedliche Werkstoffe. So modellierte er die britische Queen aus Teebeuteln, Karl Marx aus DDR-Pfennigen, Mao aus McDonalds Logos und den Papst aus Kondomen.
Wie er sich auch entscheidet, der Meister der diplomatischen und politischen Flexibilität, der früher in heiklen Situationen manchmal eine Stunde sprechen konnte, ohne Klartext zu reden, muss als Aalkönig den Honnefer Bürgern ein eindeutiges Profil hinterlassen – nicht mit Worten, aber mit der Hand.

Klaus Wirtgen